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Oh mein Gott, wie geschickt sie waren!

Interview mit Kristi Jõeste, Programmdirektorin ‘Textil‘ an der Handwerklichen Fakultät der Universität Tartu, Estland. Von ihr wollte ich wissen:

Kristi, was hat es mit dem ‚Stricken an der Universität‘ auf sich? Was ist das für eine Ausbildung?

In unserem Lehrplan schauen wir, laut Anu Raud, die 1994 den Lehrstuhl ins Leben rief, in die Vergangenheit, auf unsere Wurzeln, um die Traditionen zu bewahren und fortzusetzen. Wir wollen auch neue Traditionen schaffen. Wir sind uns unserer Rolle beim Sichern und beim Aufbau dieses nationalen Erbes bewusst und denken sehr genau darüber nach, was wir aufnehmen und weglassen können.

 

 

Wie sieht das genau aus?

Wir nehmen alle zwei Jahre neue Studenten auf, die dann vier Jahre bis zu ihrem Bachelor-Abschluss bei uns studieren. Im vergangenen Sommer begannen sechzehn neue Studenten das Textilprogramm und zwölf das Master-Programm. In diesem Sommer werden Holz- und Metallarbeiter an der Reihe sein. Diese beiden Spezialisierungen sind noch relativ neu. Traditionellen Holzbau führten wir im Jahr 2005 ein, Metallarbeiten 2011. Seit das Textil-Programm 1994 angefangen hat, entwickelt es sich. So begannen wir 2008 mit der Teilzeit-Option. Inzwischen ist jeder Textil-Student ein Fern- beziehungsweise Teilzeitstudent. Unsere Textilschüler sind in der Regel um die dreißig Jahre alt. Das ist auch der Grund, warum wir das Vollzeit-Studium beenden mussten. Dieser eher praktische Ansatz heißt hier in Estland: angewandte Hochschulbildung. Insgesamt haben wir in diesem Studiengang etwa vierzig Studenten in zwei Kursen, die in jeder zweiten Woche für drei Tage besucht werden. Die Gruppe umfasst auch einige jüngere Frauen, die um die zwanzig sind. Aber alle haben sich dafür entschieden, neben dem Studium zu arbeiten. Denn in Estland ist es immer weniger üblich, dass Eltern das Studium ihrer Kinder finanziell unterstützen.

Soweit ich verstanden habe, stehen im Lehrplan traditionelle estnische Handwerkstechniken. Was gehört dazu?

Zunächst ist es unerlässlich, die wichtigsten Techniken zu kennen. Das ist unser grundlegendes Curriculum: Weben, Gürtelweben, Stricken, Sticken, Häkeln. Wenn die beherrscht werden, dann ist es möglich, das erworbene Wissen entweder für die Herstellung authentischer historischer Textilien oder als Grundlage, als Inspirationsquelle, für zeitgenössisches Schaffen zu nutzen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Wissen und praktischen Fähigkeiten umzugehen.

Die ästhetische Seite der Volkskunst ist auch für uns beeindruckend, aber die Techniken sind es noch viel mehr: lokale Materialien, Werkstätten, Werkzeuge, Meister und so weiter. Das unterscheidet uns von der reinen Berufsausbildung oder von der Kunstakademie, die dem konzeptuellen Denken oder der Originalität gewidmet ist.

Unser Lehrplan für jeden Studenten ist sehr flexibel, da jeder zusätzlich zu den Pflichtmodulen zwei von fünf Spezialisierungsmodulen wählen muss. Dies gibt die Möglichkeit, die eigenen Berufsperspektiven auf der Basis von Interessen, Charakter, Vorbildung und vielem mehr zu gestalten.Bei uns können also professionelle Handwerker, Museumskuratoren, Bauunternehmer, Mode-Designer, Kursleiter oder Lehrer ihre Forschungsmethoden ergänzen und ihre praktischen Fähigkeiten verbessern.

 

 

Warum ist es wichtig, traditionelle Handarbeitstechniken zu unterrichten? Traditionelle Trachten befinden sich doch eher auf dem Rückzug. Wozu dient dann die Verwendung dieser Techniken heutzutage?

Diese Einschätzung stimmt nicht. In Estland hat das Herstellen und Tragen von Volkskleidern eine größere Popularität als je zuvor! Die Frage, warum es heutzutage wichtig ist, traditionelles Handwerk zu studieren stellt sich nicht. Wer für die handgefertigten Dinge bezahlen kann, wäre die näher liegende Frage. In Tartu und Tallinn gibt es Kurse, die von den Museen und unseren ausgebildeten Fachleuten begleitet werden. Dorthin gehen viele Esten, die sich ihre Tracht selber machen möchten, statt sie teuer zu kaufen. Diese Kurse dauern zwei Jahre und sind sehr beliebt. Das ist für den privaten Bereich. Auf dem öffentlichen Sektor besteht ein ständiger Bedarf von Museen an Kopien und Neuauflagen der Textil-Sammlungen. Dann gibt es Bedarf an Spezialisten in Museen, die sich für das Alltagsleben und Alltagsgegenstände, wir nennen es ‚folk life‘, interessieren. Und dann gibt es noch die zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Gruppe der Reenactors, also der Menschen, die gelegentlich historische Epochen spielen und Kleidung und anderes Material benötigen, die mit sorgfältiger Authentizität und Wissen hergestellt wurden.

Was machst Du als Textil-Direktorin an der Viljandi Culutre Academy?

Als Teil der akademischen Universität widme ich einen sehr großen Teil meiner Zeit der Forschung. Es gilt Seminararbeiten zu lesen, ebenso wie Abschlussarbeiten, Masterarbeiten, und Artikel für die Fachzeitschriften zu verfassen. Hier sind unsere Hauptquellen historische Museumssammlungen, wir beziehen uns aber auch immer mehr auf Themen und Objekte von heute. In dieser Hinsicht ist die handwerkliche Forschung, wie wir sie nennen, ein interdisziplinäres Feld, das Bereiche der Ethnologie, Anthropologie, Semiotik, Archäologie und Folkloristik umfasst. Von jeder dieser Disziplinen lernen wir oder entlehnen manchmal Terminologie oder Sprache, um über materielle Kulturobjekte zu sprechen. Die handwerkliche Forschung in Estland befindet sich im Entwicklungsstadium. Wir haben unsere eigene wissenschaftliche Terminologie, denn wie jede andere Wissenschaft brauchen wir unsere eigene Sprache. Dies ist im Moment mein Hauptthema – der Umgang mit Methoden, Quellen, Begriffen und so weiter. Auf technischer Ebene verbleiben mir gerade nur wenige Kurse: Häkeln, tunesisches Häkeln und Fäustling- beziehungsweise Handschuhstricken. Und sowohl die Bachelor als auch die Master-Studenten wollen betreut werden.

Was fasziniert dich am meisten an Wolle und Strick?

Das Faszinierendste für mich in der estnischen traditionellen Strickkunst ist, wie geschickt Strickerinnen in der Vergangenheit waren. Es gibt Handschuhe, die so viel Fachwissen erfordern, dass heutzutage selbst Spezialisten wie ich und wenige andere sie nicht reproduzieren können, ohne vorher zu üben! Schauen wir uns die alten feinen Muhu-Handschuhe aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts mit Intarsienmotiv an:

 

 

Hier haben wir 200 Maschen pro Runde, aber im Strickprozess wechselt ständig die Stichzahl, wie an den Handgelenksbereichen und weiter oben, um das Motiv selbst, um die Form und Breite des Fäustlings glatt und gleichmäßig zu halten. Denn bei einfachen rechten Maschen ist der Fäustling breiter, mit Muster oder Zöpfen ist er enger und schmaler. Ich weiß es theoretisch, habe es aber noch nicht selbst versucht, den Fäustling nachzuarbeiten. Es fängt schon mit dem Garn an – wo bekommt man so dünnes zweifädiges, unbehandeltes Garn her? Oder sehen wir uns die Objekte mit Fransen an, die auf bestimmte regionale Weise gestrickt oder später angenäht werden, zum Beispiel dieser hier, mit genähten Fransen. Ich habe während meiner Museumsarbeit so viele Entdeckungen gemacht und so Vieles noch nicht nachgearbeitet.

Oh mein Gott, wie geschickt sie waren! Jetzt müssen wir mit Stricknadeln in den Museen sitzen und die Fähigkeiten unserer Vorfahren mühsam rekonstruieren. Denn im 20. Jahrhundert hörte alles auf, verschwand, wurde, aus verschiedenen Gründen, vereinfacht. Das Ergebnis ist ein internationaler Stil ohne lokale Identität, es sei denn, wir kümmern uns und unternehmen etwas.

Die seriöse Handwerksforschung, die wir in den letzten zehn Jahren durchgeführt haben, insbesondere mit Museumssammlungen, hat in ästhetischer und technischer Hinsicht, letztendlich auch zu sehr hochwertigen handwerklichen Veröffentlichungen geführt. Hier gilt es den Saara-Verlag zu erwähnen. Diese Bücher sind nicht mehr nur einfache Fotokataloge, kommentiert von Sozialwissenschaftlern, Kunsthistorikern oder Ethnographen. Stattdessen sind es Bücher unserer Alumni, die Experten der verschiedenen einheimischen Techniken sind. Das bedeutet, dass diese neuen Bücher auf wissenschaftlichen Untersuchungen basieren und auch gründliche und korrekte Anleitungen enthalten.

Zweifellos trägt dies dazu bei, unsere nationale Aufgabe zu erfüllen, die Traditionen des Handwerks lebendig zu halten, zu erneuern und neu zu beleben. Ja, manchmal müssen wir Fähigkeiten aus den Objekten rekonstruieren, die sonst niemand mehr machen kann. Wir, als Handwerksforscher, sind dazu in der Lage.

Und das führt zum nächsten Thema: Da unser kulturelles Erbe, im Vergleich zu anderen Ländern Europas, ziemlich gut erforscht und geübt ist, entsteht ein großes Interesse. Es kommen Handwerker hierher, um etwas Spannendes und Sinnvolles zu lernen. Zu diesem Zweck organisieren wir das Craft Camp und andere bedeutend Ereignisse, wie das Nordic Knitting Symposium, aber auch kürzere Kurse. Umgekehrt werden unsere Experten zu Foren, Symposien und Strickereignissen eingeladen. Ich hatte die wunderbare Möglichkeit zu Reisen und leidenschaftliche Handwerker zu treffen, sowohl im Hobby- als auch im beruflichen Bereich. Und dies führt zum notwendigen Austausch mit verschiedenen Ländern, verschiedenen Traditionen, es gibt Inspiration und Beispiele für andere Menschen. Oh, ich könnte stundenlang weitererzählen!

 

Mehr über Kristi Jõeste:

Geboren 1977 in Rapla, lernte Kristi mit sieben Jahren Stricken, wie es üblich war. Erst während ihres Studiums am Viljandi Culture College kam sie erstmals in Berührung mit den traditionellen estnischen Handschuhen, die im Museums-Depot lagerten. In dieser Zeit, auch mit der Öffnung Europas, wurde ihr die Einzigartigkeit der estnischen Strick-Tradition bewusst. Seitdem ist es ihre Mission die einzigartigen Muster und Techniken zu erforschen und möglichst der ganzen Welt weiterzugeben. Im englischsprachigen Raum haben manche Besucher Kristi kennengelernt, als sie 2016 auf der Shetland Woolweek lehrte.

 

Bücher:

‚Ornamental Journey‘ , Kristi Jõste und Kristiina Ehin

2012, Saara Publishing House

Beschreibt auf einer fiktiven Reise durch Estland die Muster der einzelnen Regionen und enthält eine sehr liebevolle Einführung ins estnische Handschuhstricken.

 

‚Estonian Knitting 1‘ Anu Pink, Siiri Reimann, Kristi Jõeste

2016, Saara Publishing House

Erzählt im ersten Teil die Geschichte estnischen Strickens und erklärt dann Grundlagen aller wichtigen Techniken vom Anschlag, über Lace zu Entrelac. Sehr exakt, gut bebildert und umfangreich.

 

‚Kihnu Kördid Eile Ja Täna‘ Kristi Jõeste

Das Buch habe ich leider noch nicht in die Finger bekommen.

 

Momentan arbeitet Kristi an Band 3 von ‚Estonian Knitting‘ auf den bin ich schon sooo gespannt!

Mehr gibt es auf ihrem Blog auf dem sie über ihre neuesten Textil-Aktivitäten schreibt oder bei facebook, wo sie über ihr Unternehmen Ulas, ihre Handschuhe vermarktet.

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